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1968 - Mit der Armee im Raum Adorf

Erinnerungen von Claus Vieweger (2012)

Am 1. Mai 1968 wurde ich zur Armee eingezogen (Nationale Volksarmee). Der Wehrdienst dauerte damals anderthalb Jahre. Ich war in Halle bei der Abteilung Panzerabwehr stationiert. Die Kaserne befand sich in der Reilstraße. (In dem Gebäudekomplex hatten bereits Garnisonen der Reichswehr und der Wehrmacht ihre Stützpunkte.) Heute befindet sich eine Behörde in dem Gebäude.

Wir absolvierten dauernd Übungen, ständig hieß es „Alarm“. So auch am 28. Juli 1968 – wir rückten aus. Da wir die andauernde Übungspraktik schon kannten, hatte es keiner für notwendig erachtet richtige Ausrüstung mitzunehmen – aber diesmal war es kein blinder Alarm. Unsere Division wurde mit anderen in den Raum Kahla (Thüringen) verlegt. Die komplette Ausrüstung einschließlich Zelte und alles, was dazu gehörte, wurde nachgeholt. Die gesamte Hallenser Kaserne war ausgerückt (zum Teil an andere Orte). So lagerten wir im Gelände um Kahla, ohne Informationen über die Gründe. Nach etwa drei Wochen erreichten uns Gerüchte, irgendwas sei los in der Tschechei.

Plötzlich hieß es: Wir setzen um in den Raum Adorf. Das war am 16. August. In der Nacht zum 17. August setzten sich die Marschkolonnen in Bewegung. Wir fuhren auf G 5-Lastern (unser ganzes Regiment, das zur 11. Motorisierten Schützendivision gehörte), hinten am Lastwagen dran hing unser Geschütz, eine 85mm-Kanone. Ich konnte nicht glauben, dass es wirklich nach Adorf geht, ständig war ich auf Ausguck im Fahrerhaus. Dann hatte unser Laster eine Panne. Wir blieben zurück, und nach einer provisorischen Reparatur fuhren wir alleine weiter und waren auf uns gestellt. Ziel unserer Kompanie war der Raum Hermsgrün. Ich kannte mich aus und wusste genau, wo es lang ging bzw. wo wir langfahren mussten. Im Überschwang so unverhofft die Heimat zu sehen, überredete ich den Fahrer, erst einmal nach Adorf rein zu fahren. Gesagt, getan. Es war ein Sonnabend, früh morgens, als der Laster mit mir und meinen Kameraden (und der Kanone hinten dran!) vor unserem Haus in der Häßlerstraße (heute: Eduard-Krenkel-Straße) vorfuhr. Nach einem Kurzbesuch daheim (große Überraschung und Verwunderung bei meiner Familie) fuhren wir über Leubetha nach Hermsgrün. Auf dem Weg hielten wir bei Bernd Bürgel, der ein Arbeitskollege von mir aus der Halbmond war und der später die „Weintraube“ hatte. Inzwischen war es Vormittag. Wir fuhren auf dem Hof vor, ein Fenster öffnete sich und eine Frau sah uns (seine Mutter oder seine Oma). Bei ihr kamen offenbar sofort alte Erinnerungen hoch, verängstigt rief sie: „Bernd komm schnell! Die Wehrmacht ist da!“ Nach einigen kurzen Worten fuhren wir dann gleich weiter nach Hermsgrün auf den Tannicht, wo schon die restliche Kompanie (die schon eher angekommen war) lag. Wir stießen nun dazu. Da alle wussten, dass wir eine Panne gehabt hatten, gab es keine Probleme. Von unserem Abstecher nach Adorf sagten wir natürlich nichts.


Truppenteil der 11. MSD mit Geschütz (angehängt an G5-Laster), C. Vieweger hinten links - Mit diesem Geschütz fuhren wir in der Adorfer Häßlerstraße vor.

Später an diesem Tag fragte ich meinen Geschützführer, ob ich meiner Familie zu Hause einen Besuch abstatten dürfe. Oberstleutnant Fischer entschied, ich dürfe am nächsten Tag (einem Sonntag) offiziell einen Besuch bei meinen Eltern machen. Darüber freute ich mich natürlich sehr, doch in meinem jugendlichen Leichtsinn (ich war damals 18 Jahre alt) reifte in mir schon der nächste Plan. Abends setzte ich ihn in die Tat um: UE – Unerlaubtes Entfernen von der Truppe. 

Über den Tannicht lief ich nach Adorf heim in die Häßlerstraße, wo ich meine Kleider wechselte und nun zivil trug. Dann marschierte ich frohen Mutes zum Clubhaus (Schützenhaus). Meine Freunde und Bekannten (darunter z. B. Peter Bachmann und Harry Langhammer) waren entgeistert und redeten auf mich ein. „Wenn die dich erwischen, ist der Teufel los!“ „Du kommst in den Knast!“ Und so weiter. Doch ich freute mich einfach, so unverhofft wieder zu Hause zu sein und meine Freunde zu sehen, dass ich mir keine großen Gedanken machte. Nach 2 Uhr bekam ich dann doch Schiss und bin wieder los. Zuerst nach Hause, wo ich in meine Armeekleidung stieg, und dann wieder raus nach Hermsgrün – wo mich keiner vermisst hatte.
Sonntagfrüh hatte ich dann ja offiziell Ausgang. So marschierte ich wieder nach Adorf, in Ausgehuniform mit der Kalaschnikow (einschließlich Munition) auf dem Rücken. Heute undenkbar.

An der Haltestelle Elsterbrücke (damals noch vorne an der Elsterstraße) sah ich meine ganzen Fußballkameraden, die an dem Tag ein Spiel hatten und auf den Bus warteten (u.a. „Tschischo“ Gottfried Wenzel, „Gapsch“ Wolfgang Geipel und „Mosi“). Sie hatten mich noch nicht bemerkt, so schlich ich mich hinter dem Zeitungskiosk an sie heran und warf mich in Pose. Es gab ein großes Hallo.
Nachdem ich zu Hause und bei meiner Oma im Beamtenheim gewesen war, traf ich Jürgen Christ mit seiner Jawa. Ich borgte mir die Java und fuhr ans „Schnallenheim“ (das Mädchen-Lehrlingswohnheim am Hummelberg), wo ich meine Freundin Christel besuchte. Danach lief ich wieder zurück nach Hermsgrün.
Am nächsten Tag (Montag) musste ich antanzen: es war gemeldet worden, dass ich am Sonnabend im Schützenhaus gewesen war. Mein Vorgesetzter, Oberstleutnant Fischer, verdonnerte mich dazu eine Abfallgrube auszuheben (2m x 2m x 2m). Und damit kam ich davon – wohl, wie ich damals dachte, weil ich meinem Heimatort so nahe war und auch nichts Schlimmes passiert war. Heute glaube ich, die hatten damals wirklich andere Sorgen. Unsere Division war russischem (oder damals: sowjetischem) Befehl unterstellt und wenn auch wir einfachen Soldaten nichts konkretes erfuhren, so wussten unsere Vorgesetzten doch etwas mehr bzw. hatten richtig Angst, dass der Einmarschbefehl in die Tschechei kurz bevorstand. Die Lage befand sich auf Messers Schneide.

Wir lagen dann noch etwa drei Wochen draußen oberhalb von Hermsgrün, genau auf dem höchsten Punkt vom Tannicht (von Adorf aus auf der höchsten Kuppe links den Waldweg rein). Mittlerweile war auch zu uns vorgedrungen, dass wir möglicherweise in die Tschechei sollten. Nach der ersten Woche im Feldlager dachten sich unsere Vorgesetzten ständig neue Beschäftigungen für uns aus: alle möglichen Übungen, Wege bauen, Latrinen schaufeln, Abfallgruben anlegen, das ging bis zum Tannennadeln harken. Von Hermsgrün aus wurden wir öfter nach Adorf zum Bahnbetriebswerk am Lokschuppen, in die Halbmond oder in die Vowetex gefahren, wo wir uns duschen konnten. Ich hatte auch öfter Besuch von meinen Fußballfreunden, die mir oft Essen brachten.
Wir waren jung und machten uns keine großen Gedanken. Abends packte uns oft der Bierdurst, also rückten wir heimlich ins Wirtshaus der Familie Wunderlich nach Hermsgrün aus. Eines Abends, wir waren gerade im Wegschleichen, entdeckte unser Zugführer unser leeres Zelt. Nach diesem Vorfall gab es nächtliche Streifendienste. Wir fanden dennoch Wege uns davonzustehlen und waren unter anderem beim Gastwirt Stengel in Adorf (später: Bernd Ritter) oder auch wieder im Hermsgrüner Wirtshaus. Eines Abends – wir waren wieder vermisst worden – tauchte plötzlich eine Streife im Gasthaus auf. Ich flüchtete von der Gaststube in den Hühnerstall, denn ich war (unerlaubt) in Zivil. Die Verfolger stürmten in den Hof hinein und zerrten uns alle raus, auch mich. Ich hörte nur ein Brüllen: „Vieweger!! Sie sind auch dabei!“ Nach diesem Vorfall (den Weg zurück ins Lager musste ich vor dem Fahrzeug herlaufen) hatte ich bei meinen Kameraden einen neuen Spitznamen weg: Dubcek.

Später zogen wir um nach Bergen und kampierten in dem Gelände rechts der Straße gegenüber vom Bergener Bad. Von hier wurden einige Einheiten in die Adorfer Möbelfabrik (heute: Gewa, Werkstraße) zum Arbeiten abkommandiert – ich war dabei. Wir wurden jeden Tag gefahren und gebracht, konnten uns dort auch waschen. Wir kamen wieder auf dumme Ideen. Mein Freund Peter Bachmann holte mich in seinem Opel P 4 (ein echter Hingucker) von der Möbelfabrik ab und wir fuhren ins Waldbad. Hier haben wir zusammen gegessen und getrunken, zur Abholzeit brachte er mich wieder zur Möbelfabrik. Natürlich zu spät, es war keiner mehr da. Also fuhr Peter mich im Opel nach Bergen. In Freiberg überholten wir den „Ello“ (Lkw), der hielt an und ich stieg hinten auf. Der „Ello“ fuhr allerdings nicht los, denn jetzt gab’s richtig Ärger. Ich sollte von Freiberg bis Bergen vor dem Fahrzeug herlaufen. Doch meine Kollegen machten Rabatz und schimpften auf diese „Nazi-Methoden“. Daraufhin durfte ich doch wieder hinten aufsteigen. (Eine Strafe bekam ich natürlich trotzdem noch, und zwar eine Nacht in Einzelhaft. Das bedeutete ein leeres Zimmer mit einem Hocker als „Schlafgelegenheit“.)

Während dieser ganzen Zeit bekamen wir keine Informationen über die Lage in der Tschechei. Abgesehen von den Vorgesetzten, die Berufssoldaten waren, waren wir alle Wehrpflichtige und durch die Erlebnisse war der Zusammenhalt in der Truppe sehr groß. Während wir noch in Hermsgrün lagen, rollten russische Panzer durch Adorf. Selbst gesehen habe ich diese jedoch nicht. Straßenkontrollpunkte befanden sich am Landhaus und an der Weintraube. (Der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei fand am Dienstag nach der Ankunft der Kompanie in Hermsgrün, in der Nacht vom 20. auf den 21. August, statt.)
Insgesamt lagen wir drei Wochen in Kahla, drei Wochen auf dem Tannicht in Hermsgrün und eine Woche in Bergen. Mitte September wurden wir in die Kaserne nach Halle zurückverlegt.

>> Näheres über den Prager Frühling

>> mehr über die 11. Motorisierte Schützendivision und andere NVA-Truppenbewegungen

>> Karte aus dem Bundesarchiv zu den von der NVA geplanten Truppenbewegungen (bis in die Tschechoslowakei!)

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