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Eisenbahnerlebnisse im Jahr 1945

Erinnerungen von Rolf Ludwig

Mein Onkel empfahl mir immer: „Man solle das Leben in vollen Zügen genießen“!

Das ist mir im wahrsten Sinne des Wortes auf der Eisenbahnstrecke Chemnitz – Adorf (Vogtl.), die damals noch nicht durch die Talsperre Eibenstock unterbrochen war, bestens gelungen. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg arbeitete ich in Chemnitz und fuhr am Wochenende nach Hause ins Vogtland. Die Züge waren schon in Chemnitz überfüllt. Junge Leute fanden oft nur Platz im Gepäcknetz oder auf den Trittbrettern der Eisenbahnwagen. Bei schönem Wetter auf dem Trittbrett von Chemnitz bis Zwönitz oder Aue zu fahren, ging ja noch. Hinter der Lok bis zum dritten Wagen wurde man allerdings vom Funkenflug der Dampflok eingedeckt. Kleine Brandlöcher in der Kleidung waren vorprogrammiert!  So ging das Woche für Woche – und das nicht ohne besondere Erlebnisse.

Auch wenn Platz Mangelware war, der Schaffner quälte sich zur Kontrolle durch die überfüllten Abteile. Ich war gerade vom Trittbrett  ins Abteil umgestiegen. Als er mich kontrollierte, fand er, dass ich zwar in Chemnitz eine Arbeiterrückfahrkarte erhalten und bezahlt hatte, aber mein Arbeiterrückfahrkarten-Antrag nicht verlängert war. In Aue nahm er mir die Fahrkarte weg. Ich rannte zum Schalter und kaufte mir eine Fahrkarte, soweit mein Geld reichte. Das war Schöneck! Irgendwie konnte mich der Schaffner nicht leiden. In Eibenstock wurde ich wieder kontrolliert – und in Schöneck stand er neben mir und sagte: „Na und?!“ Ich musste aussteigen  u n d  nach Adorf laufen. Zum Glück hatte ich kein großes Gepäck und als Jugendlicher war man ja ans Laufen gewöhnt. Zu Hause gab‘s neues Geld für die Fahrt zur Arbeit nach Chemnitz, diesmal ohne Ermäßigung!

Es gab aber auch Eisenbahnerlebnisse, über die man heute noch lachen kann. Meine Bekannten wussten, dass ich handwerklich geschickt  war und so bei kleinen Reparaturen im Haushalt helfen konnte. Damals kurz nach dem Krieg waren viele Handwerker noch nicht aus Gefangenschaft zurückgekehrt und Material für Reparaturen fehlte. Eine Bekannte bat mich, ein Elektrogerät zu reparieren. Am Sonntagfrüh habe ich das getan. Meine Entlohnung sollte ich Sonntagnachmittag bekommen: „Die Hühner hätten noch nicht gelegt!“.

Am Bahnhof erhielt ich kurz vor Zugabfahrt von der Tochter der Bekannten 3 Eier, die ich mir gut schmecken lasse sollte! Erfreut über etwas Essbares, steckte ich diese in die Hosentasche. Der Zug nach Chemnitz fuhr ab. Langsam füllte er sich. Ich bot einer älteren Frau meinen Sitzplatz an. In Rautenkranz stiegen noch mehr Leute ein, es wurde eng. Als sich dann der Schaffner durch die Menge zwängte, geschah es – in meiner Hosentasche wurde es klebrig nass! Ich erschrak, denn ich hatte nicht gewusst, dass die frischgelegten Eier nicht gekocht, sondern roh waren! Mein Versuch, in die Tasche zu greifen, gelang. Ein Ei war noch ganz ! Ich hütete es in der Hand bis Chemnitz. Die Hose beschmutzt und versaut – aber ein rohes Ei gerettet, das war gut. Es hat mir nach dem Kochen gut geschmeckt und ich dachte: „Wie gut hätten alle drei Eier geschmeckt“!

Ein weiteres Erlebnis hatte ich im September 1945. Es war ein schöner Sonnabend.  Ich benutzte den Abendzug von Chemnitz nach Adorf, der dort gegen 21.00 Uhr ankam. Ich war müde vom langen Stehen und freute mich, endlich einen Sitzplatz bekommen zu haben – und schlief sofort ein. In Adorf verpasste ich das Aussteigen. Ich erwachte am Bahnhof Bad Elster, dort wurde der Zug nachts abgestellt. Die Bahnhofsuhr zeigte 22.30 Uhr, das hieß, es war schon Ausgangssperre! Ich dachte sofort, dass ich auf der Straße von den am Landhaus befindlichen russischen Posten angehalten werden würde. Im jugendlichen Leichtsinn wählte ich den Weg über die Eisenbahnbrücke am Bahnhof Bad Elster nach Adorf. Ich hatte die Brücke fast überquert, als ich plötzlich: „Stoi!“ hörte.

Zwei Sowjetsoldaten führten mich zurück über die Brücke zum Bahnhof und dann zum Posten am Landhaus. Eine intensive Kontrolle erfolgte. Ein Dolmetscher befragte mich, was ich auf der Brücke  wollte. Ich erklärte, dass ich den Weg nach Adorf abkürzen wollte und deshalb über die Brücke ging. Die Angst kam in mir hoch, eingesperrt zu werden oder: „Was werden sie mit dir anstellen?“.
Ich landete im Keller, an Schlaf war nicht zu denken. Am Morgen wurde ich in die Küche  gebracht, bekam Brot und Tee und musste dann Kartoffeln schälen. Dann kam ein Dolmetscher, der mich nochmals intensiv befragte. Ich konnte ihn überzeugen, dass ich die Brücke nicht sprengen wollte. Dann musste ich weitere Küchenarbeit verrichten. Mittagessen bekam ich. Dann ging‘s weiter. Gegen 17.00 Uhr kam ein Offizier, der mir sagte: „Geh nach Hause!“. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dann lief ich diesmal auf der Straße  nach Adorf. Aber oh Schreck, der letzte Zug nach Chemnitz ging gegen 18 Uhr, da musste ich mich sputen, zum Bahnhof zu kommen, um die Fahrt zum Arbeitsort anzutreten.

Ohne das Zuhause gesehen zu haben, fuhr ich mit meinen schmutzigen Klamotten nach Chemnitz - in der Hoffnung, dass die nächste Heimfahrt besser wird! Ich nahm mir vor, im Zug nie wieder zu schlafen.