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Erinnerungen von Reiner Thomae an die letzten Kriegstage 1945 in Adorf

Reiner Thomae (damals: Slansky) war zu dieser Zeit fünf Jahre alt und lebte mit seiner Familie am Hermsgrüner Weg. Heute wohnt er in Gummersbach. Der Bericht stammt aus dem Jahr 2006. Inzwischen ist Reiner Thomae über 70 Jahre alt.

Der Angriff von amerikanischen Tieffliegern auf das Adorfer Maschinenhaus, den Lokschuppen der Reichsbahn, am 15. April 1945 gegen 11.30 Uhr, kostete auch meinen Vater Franz Albert Slansky, der als Lokführer mit seinem Heizer leer – das heißt ohne anhängende Waggons – von Oelsnitz kam, das Leben. Während des Tieffliederangriffs stand seine Lok am geschlossenen Einfahrtsignal Richtung Bahnhof Adorf. Diensthabender Fahrdienstleiter war zu diesem Zeitpunkt mein Großvater Egon Thomae, also sein Schwiegervater. Dieser ahnte nicht, als bei Fliegeralarm die Einfahrtsignale zum Bahnhof von allen Zufahrten geschlossen werden mussten (so waren damals in Kriegszeiten die Vorschriften), dass sein Schwiegersohn vor dem geschlossenen Signal mit seinem Heizer und angeblich noch anderen Eisenbahnern an Bord seiner Lok stand. Die Männer verließen während des Angriffs die Lok, um sich in einer etwa 50 m entfernten Bahnunterführung, die heute noch existiert, in Sicherheit zu bringen.

Der Heizer, dessen Namen ich nicht in Erfahrung bringen konnte, und die anderen von der Lok haben den Angriff überlebt. Mein Vater aber, der wohl als Lokführer auf seiner Seite ausgestiegen ist, bekam einen Bauchschuss von einer der Tieffliegerbordwaffen und starb 36jährig am Bahndamm neben seiner Lok. Es war ein strahlend schöner sonniger Apriltag – solche Tage machen mir noch heute Angst.

Die vorstehenden Informationen habe ich durch Befragungen von alten ehemaligen Eisenbahnern, von meiner Mutter sowie anderen noch lebenden Familienangehörigen und durch das Landratsamt Vogtlandkreis mühsam in Erfahrung gebracht. Alles fügte sich zu einem schlüssigen Bild.

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Auch für unsere Familie. Obwohl doch allein schon der Verlust des Vaters, insbesondere für mich als Fünfjährigen und meine damals acht Jahre alte Schwester, natürlich auch für meine Mutter, gravierende Folgen für unser späteres Leben haben sollte.

In der letzten Adorfer Kriegsnacht vom 6. auf den 7. Mai 1945 explodierte noch eine Granate, vermutlich versehentlich von den letzten Verteidigern der Stadt Adorf in mein Geburts- und großelterliches Haus der Familie Slansky am Hermsgrüner Weg gelenkt. Die Granate kam, man kann es noch heute an der ausgebesserten Ziegelwand des Hauses erkennen, mit großer Wahrscheinlichkeit aus Richtung Wernitzgrün. Dort waren in jener Nacht nachweislich keine Amerikaner. Die waren genau gegenüber auf den Freiberger und Arnsgrüner Höhen. Beweisen, dass das eine deutsche Granate war, läßt sich das heute natürlich nicht mehr, aber vieles deutet darauf hin.

Die Folgen waren katastrophal, denn fast meine ganzen Verwandten (die alle in diesem Haus lebten), Onkels, Tanten, Cousinen und Cousins sowie ein Flüchtlingsehepaar (Familie Preßemann), insgesamt sieben Personen, wurden von der Splitterwirkung der Granate, die in den Keller eindrang, wo sich alle in Sicherheit wähnten, buchstäblich zerrissen. Meine Mutter hatte sich mit meiner Schwester und mir einen Tag vorher, während einer Feuerpause,  wohl aus einer Vorahnung heraus, nach Sohl zu Verwandten (Thomae) in Sicherheit gebracht. Damit rettete sie uns das Leben. Als wir einen Tag später – als der Krieg offiziell zu Ende war – nach Adorf zurückkamen, stießen wir auf Panzersperren. Man hatte die Alleebäume gefällt, über die die Amerikaner jedoch mit ihren Panzern lachend hinweg fuhren. Schon von weitem sahen wir von der Markneukirchner Straße aus das Riesenloch rechts in der Hauswand und wenig später all die toten Verwandten unter Decken im Souterrain (Großvaters ehemaliger Tischlerwerkstatt) liegen.

Der Krieg war zu Ende, meine Familie hat wie die meisten anderen auch, große Opfer bringen müssen. Ich leide noch heute als 65jähriger darunter. Vorher waren schon einige Verwandte als Soldaten gefallen. Als ich neun Jahre alt war, im Sommer 1949, holte uns ein von mir und meiner Schwester Ursula (verstorben am 5 Januar 1998 in Nürnberg) ungeliebter Stiefvater (meine Mutter hatte 1947 wieder geheiratet) ins Rheinland, in die Nähe von Köln, nach Gummersbach ins Oberbergische Land.
Meine Schwester und ich wurden nicht gefragt, ob wir mit wollten. Wir wären gerne bei den Großeltern (Thomae/Slansky), Freunden, Freunden, Mitschülerinnen, Mitschülern und Nachbarn geblieben, aber wir hatten keine Wahl. Ich hatte immer Heimweh nach Adorf und Bad Elster und bin, sobald die Grenzen offen waren, häufig „nach Hause“ gefahren. Wieder nach Adorf zu ziehen (mit meiner Frau Heide, die aus Dortmund stammt), können wir wohl nicht mehr. Die Stadt hat einen Sohn verloren, doch das Heimweh bleibt – immer.