Skip to content

Erinnerungen an Adorf in der Kriegs- und Nachkriegszeit

von Lothar Bohne

Die Demontage der ADOROS- Teppichwerke

Ich fing im November 1945 nach meiner abgebrochenen Schule als Aufstecker bei den "Adoros Teppichwerke Uebel OHG" an. So steht es in meinem Arbeitsbuch von 1945. Die Firma hieß offiziell noch so, da die Enteignung der sog. "Kriegsverbrecher" laut Volksabstimmung 1946 in Sachsen, zu denen der Besitzer Karl Übel (genannt der "Uebel-Schlankel") offenbar wegen Produktion von Papiersackmaterial für die Kriegswirtschaft, (möglicherweise auch wegen der Produktion von Kriegsmaterial in dem Gebäude, welches von Heinkel belegt war) gezählt wurde, juristisch noch nicht vollzogen war. Praktisch war bereits eine von den örtlichen Organen (oder auch von den Sowjets?) eingesetzte Betriebsleitung (Betriebsleiter Seidel) und ein Betriebsrat (Vorsitzender mein Onkel Robert Roßbach) tätig. Den "Schlankel" habe ich nach dem Kriege nicht mehr gesehen, ich kenne ihn vom Ansehen nur davor. Er war der erste in Adorf, der seinen Personenwagen schon weit vor dem Kriegsende mit einen "Holzvergaser" ausrüsten ließ um der kriegsbedingten Benzinknappheit zu entkommen. Als die Sache für ihn im Osten aussichtslos wurde, ging er nach England und baute dort ein kleine Fabrik auf. Anfang der 1950er Jahre kam er nach Westberlin und hat mit ERP-Mitteln (US-amerikanische Finanzhilfe für Europa) und seinen Markennamen "ADOROS" eine neue Teppichfabrik in Spandau errichtet. Etliche seiner Adorfer Weber (Paul Findeiß, Werner Meinel aus der Kolonie) liefen zu ihm über. Da ich in den 1950er Jahren in Berlin wohnte, habe ich ihn im Auftrag meines Schwiegervaters dort besucht um die Anstellungsaussichten für Adorfer Weber zu recherchieren. Er war nicht abgeneigt, weitere einzustellen. Mein Schwiegervater hat aber doch zum Glück Abstand davon genommen.
Die Adorfer Firma wurde immer noch von den meisten Leuten nach dem Gründer der Fabrik "Claviez" genannt, obwohl der Karl Uebel sie wahrscheinlich schon in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise übernahm und mit seinem Roßbacher Werk zu den "ADOROS"-Teppichwerken vereinigte (ADOROS ist eine Verbindung der Namen der beiden Städte  ADOrf - ROSsbach). Denn der Name "Uebel" war bereits als Synonym für die andere große Textilfabrik "Gebrüder Uebel, Mechanische Baumwollspinnerei und Weberei Adorf" in der Markneukirchnerstraße belegt.

Die Revolverdrehbänke in dem von Heinkel requirierten Bau [Außenstelle der Flugzeugwerke Heinkel, Werk Rostock] wurden sehr bald, noch 1945, von den Sowjets demontiert. Bald ging das Gerücht um, dass auch die Webstühle (es waren keine Webautomaten !) nach Russland verfrachtet werden sollen. Die Stimmung unter den Arbeitern war deshalb ziemlich miserabel. Demzufolge wurde ein weiteres Stammtischgerücht, nämlich dass die Westmächte demnächst gegen die Sowjet-Union zu Felde ziehen werden, heftigst aber heimlich von manchen begrüßt.

Am 18.03.1946 war es dann soweit. Alle Fabrikarbeiter wurden verdonnert an der Demontage der Einrichtung des Werkes mitzumachen. Es wurden nicht nur sämtliche für die Herstellung von Teppichen notwendigen Maschinen, sondern auch alle Nebeneinrichtungen wie Kesselhaus, Dampfmaschine mit E-Generator, Spinnmaschinen, Krempeln, Appretur u. a. mehr abgebaut. Alles wurde in entsprechen große Baugruppen für den Eisenbahntransport zerlegt, in Kisten mit Schlittenkufen aus Holz eingehaust, auf Bahnprofil zugeschnitten (oben z. T. abgeschrägt, denn es musste durch den Profilator auf dem Bahngelände passen) und durch ein Loch in der Fabrikmauer (durch die vorhandenen Tore passten die Kisten nicht) auf dem Güterbahnhof mit Hilfe von Zugmaschinen verfrachtet. Einiges ging natürlich auch zu Bruch, was eine Nacharbeit auf dem Bahnhof erforderte. (Dass auf dem Güterbahnhof nur Schrott ankam, wie in den Erinnerungen von Wolfgang Riedel steht, stimmt so nicht ganz) Dort standen dann die abfahrbereiten Züge mit unseren Arbeitsmitteln. Man erzählte sich später, dass diese Kisten irgendwo in der Taiga vom Zug geworfen wurden und die Webstühle damit nie in Betrieb gingen. Wie auch, die geeigneten Menschen zur Aufstellung und Bedienung wurden (zum Glück) nicht mitgenommen wie es zum Beispiel bei kriegswichtigen Dingen z. B. der Atom-, Raketen- und Flugzeugindustrie geschehen war. Wie schon Wolfgang Riedel andeutete, hätte man besser daran getan die Fabrik als SAG (Sowjetische Aktiengesellschaft) unter sowjetischem Kommando weiterzuführen (wie es bei anderen Betrieben auch geschehen war) und die Produktion beschlagnahmt statt die Produktionsmittel.

Am 27.04.1946 war alles weg, die Hallen leer, und ich konnte gehen.
Ich habe in diesen sechs Wochen zwar eine Masse Geld verdient: 759,87 RM war ein außergewöhnlich hoher Verdienst damals, aber nun musste ich ohne Verdienst auskommen. Einige Stammkräfte blieben, denn es musste auf irgend einem Wege weitergehen. Aus dem Schrott und aus gar zu alten Webstühlen, auf die die Sowjets verzichtet hatten, wurde nach und nach wieder eine bescheidene Produktion aufgebaut.

Als ich am 13.01.1947 wieder als Praktikant in der Schlosserei und der Elektrowerkstatt in dem nunmehr benannten "Adorfer Teppich- und Textilwerken, Zweigbetrieb der I.-V. 49" (Industrieverwaltung Textilindustrie) eingestellt wurde, werkelte man fleißig unter Führung des Schlossermeisters Otto Wehefritz und des Weberei-Obermeisters Edwin Rockstroh an dem Wiederaufbau der Produktion. Neue Maschinen kamen vorerst nicht, jedenfalls nicht bis zum Ende meiner dortigen Tätigkeit im Herbst 1949. Vieles wurde aus dem Schrott zusammengesucht oder selbst produziert. Wir haben aus vorhandenen Wellenstücken (8 bis 10 cm Durchmesser) im Schmiede-Schweißverfahren neue verlängerte Wellen produziert. Ich habe nach Angaben meines Meisters Otto Wehefritz eine Entrostungstrommel gebaut um verrostete Kantereisen (große krampenähnliche Rundeisenstücke, die zum straff halten der Webfäden an den Spulen am Kanter auf dem Faden aufgehängt wurden), die bereits ausgemustert waren, zu entrosten. Ich habe mit der Stoßmaschine in der Schlosserei Exzenter für Webstühle aus vorhanden 20 mm starken Stahlplatten aufwendig hergestellt. Ein Teil, dass man von der Textilmaschinenindustrie als Gussteil zu weit günstigeren Bedingungen hätte haben können. Aber es lag ja alles allerorten am Boden. Wie bei uns, wurde auch an anderen vielen Stellen demontiert.
Es hat sich dann im Laufe der Jahre alles wieder mühsam hochgerappelt, wie ja allgemein bekannt. Der Adorfer Betrieb wurde der "Halbmond" zugeschlagen und verlor damit seine Selbständigkeit.

Schulunterricht  am Ende des Krieges


Ende 1944/Anfang 1945 kamen außer Bombenflüchtlingen aus dem Rheinland und Leipzig immer mehr Kriegsflüchtlinge vor allem aus Ostpreußen nach Adorf. Erstere konnten bisher noch in Wohnungen untergebracht werden. Bei Letzteren wurde der Platz knapp, so dass die Schulräume der Mädchenschule (Neue Schule) zur Unterbringung herangezogen wurden. Wir sind mit unserer Mittelschulklasse Mi 5 in einen Fabrikraum der Baumwollspinnerei Gebr. Uebel umgezogen und hatten dort nur noch eine Art Notunterricht. Wo andere Klassen untergekommen sind, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde die Neue Schule fast vollkommen mit Flüchtlingen belegt. Als Angehörige des "Jungvolkes"  mussten wir die Flüchtlinge vom Bahnhof abholen und in die Quartiere geleiten. In den Bahnwaggons (1. Und 2. Klasse!) herrschte durch den tagelangen Aufenthalt der Familien, teils mit Kleinkindern, ein fürchterlicher Gestank.
Da ich ab Mitte März ins Wehrertüchtigungslager eingezogen wurde, und nach meiner Flucht Mitte April mich natürlich nirgends sehen lassen durfte, weiß ich nicht mehr, wie lange der Notunterricht noch aufrecht erhalten wurde. Nach dem Zusammenbruch ging es jedenfalls nicht mehr weiter.

Jungvolk und Hitler-Jugend

Ab März 1939 wurde im Deutschen Reich die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend Pflicht. Alle 10- bis 14jährigen Jungen wurden in das "Deutsche Jungvolk" als "Pimpf" aufgenommen (die Mädchen in den "Bund Deutscher Mädchen" = BDM bzw. Jungmädchenbund = JM). Als politisch unbedarftes Kind habe ich mich wirklich gefreut, als die entsprechende Aufforderung zur Einfindung kam. Das Marschieren im Gleichschritt, wie ich es von den Älteren gesehen hatte, und das Singen von Liedern dabei, hatte etwas Faszinierendes. Zudem hatte ich von den Nachbarsjungen (Walter und Horst Wilfert) Hefte "Der Pimpf" bekommen, die ich mit großem Interesse gelesen habe. Darin wurde das Hitlerjungen-Dasein in den leuchtendsten Farben beschrieben. Eine Pimpfenprobe musste man auch ablegen. Ich erinnere mich aber nicht mehr an die Einzelheiten.

Die Sommer-Uniform war ein braunes Hemd mit schwarzer, kurzer Hose, schwarzer Schlips der aus einem auf 2-bis 3 Fingerbreiten diagonal zusammengefaltetem Dreieckstuch bestand, wobei der letzte Dreieckzipfel hinten unterm Hemdkragen vorstand. Die beiden großen Enden wurden dann vorn durch einen geflochtenem Lederknoten gezogen und die Enden ins Koppel gesteckt. Das Koppel war ein breiter Lederriemen mit großem viereckigen Schloss der die Hose hielt. Ein Schulterriemen, der über die rechte Schulter vorn und hinten quer über Brust und Rücken zur linken Koppelseite lief, vervollständigte das "Geschirr". Am Koppel war rechts das "Fahrtenmesser" (eine Art Dolch in der Scheide mit dem HJ-Emblem am schwarzen Griff) befestigt. Die Winter-Uniform war eine lange schwarze Überfall-Hose und über das Braunhemd eine schwarze Bluse, das Koppel obenauf. An der Mütze mit Dach war vorn das HJ-Emblem angebracht.

Mittwochnachmittag und sonnabends (teilweise auch Sonntagvormittag) war Dienst angesetzt: Marschieren, Exerzieren, Lieder lernen, durch die Stadt marschieren, Geländespiele (auch gegen Jungvolkeinheiten anderer Städte, bei welchen es immer hart herging, und manchmal auch Blut floss), politischer Unterricht und natürlich auch manche lustige Veranstaltung.
Das Stellzentrum war der Schulhof der Mädchenschule, bei Ausmärschen durch die Stadt oder zu Geländespielen auch davor auf der damaligem Bismarckstraße (heute Lessingstraße). An der Spitze der Stadtmärsche zog der Fanfarenzug mit Star-Fanfarist und Zugführer Gottfried Stark vornweg.

Spielmannszug der Adorfer Hitlerjugend (älterer Jahrgang, 1930er Jahre am Scheunenweg;
u.a. mit im Bild: Wolfgang Übel, Lothar Vieweger)

Unterricht oder Dienst bei schlechtem Wetter wurde in den Klassenräumen abgehalten.
Aufgrund des guten Mitmachens wurde ich bald zum "Jungschaftsführer"
(eine Jungschaft waren etwa 10 Jungen) ernannt. Das äußere Zeichen dieses untersten Dienstgrades war eine rot-weiße gedrillte dünnere Schnur, die an der Brust über den schwarzen HJ-Schlips getragen wurde von der linken Brusttasche zum Blusenknopf. Später, etwa 1944 stieg ich dann zum "Jungzugführer" auf. Ein Jungzug hatte drei Jungschaften. Die Kennzeichnung dieses Führers war eine grüne dickere geflochtene Schnur, die von der linken Schulterklappe zur linken Brusttasche getragen wurde. Darauf konnte man sich nun schon etwas einbilden! Als Führer nahm man an gesonderten politischen Schulungen (bei einem überzeugten SA-Führer: Benno Baron) teil, in denen vor allem das Judentum, der Bolschewismus und die Freimaurerei als die größten Feinde der Menschheit verurteilt wurden, abgesehen von dem bedingungslosen Einschwören auf "Führer" und Nationalsozialismus. Als Jungzugführer gehörte ich zum inneren Zirkel der Fähnleinführung und war häufig in der Geschäftsstelle des "Fähnleins" zugange, die im Hinterhof des Hauses unterhalb vom Schuhgeschäft Trautloff in der unteren Bürgermeister-Todt-Straße war.

Wir hatten in Adorf ein "Fähnlein", bestehend aus fünf Jungzügen mit je drei Jungschaften, also etwa 150 Mann. Der "Fähnleinführer" (Martin Stöhr) hatte eine geflochtene grün-weiße Schnur von der Schulter zur Brusttasche (zwischen "Jungzugführer" und "Fähnleinführer" gab es noch den "Hauptjungzugführer" mit geflochtener grün-schwarzer Schnur). Der "Bannführer" mit weißer Schnur war überregional zuständig und hatte die Fähnleins in den einzelnen Städten unter sich.
Der 3. Zug war der "Flieger-Zug" der sich mit Flugmodellbau beschäftigte und Vorbereitungen für eine spätere Pilotenlaufbahn beabsichtigte. Die Jungs wurden mit 14 Jahren in die "Flieger-HJ" übernommen, wurden an Segelflugzeugen ausgebildet und konnten manchmal auch selbst fliegen. Das war eine reizvolle Sache, aber leider habe ich es trotz Bemühungen nicht geschafft in diesen Zug reinzukommen. Warum, weiß ich nicht mehr.

Pimpfe, die unentschuldigt nicht zum Dienst erschienen, wurden zu Hause aufgesucht und wenn möglich mitgenommen. Es handelte sich meisten um Kinder von Kommunisten oder Sozialdemokraten, die mit diesem Spuk natürlich nichts am Hut hatten (die meisten waren clever genug, sich daheim nicht antreffen zu lassen).
Mit 14 Jahren wurde man in die Hitler-Jugend (HJ) übernommen. Dort war die Uniform im Prinzip die gleiche, nur wurde eine Armbinde mit dem Hakenkreuz getragen. Als höherer Jungvolkführer konnte ich im Jungvolk bleiben und habe damit den in der HJ vorherrschenden Dienst nicht miterlebt. Es ging aber vor allem um die vormilitärische Ausbildung.
Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war dann der "Spaß" zu Ende.
Bezeichnend und aus heutiger Sicht traurig war nur noch, dass die jüngeren Pimpfe in ihrer kindlichen Unbedarftheit Monate danach immer noch stramm auf der Straße bei Begegnungen mit ihren einstigen "Führern" vorschriftsmäßig mit erhobener rechter Hand und "Heil Hitler" grüßten; so wie es ihnen vorher eingedrillt worden war.

Ab November 1944 wurden wir Jungs an einigen Wochenenden  zur Volkssturmausbildung nach Plauen in die dortige Kaserne geschickt. Hier wurde Schießen mit Gewehr und MG geübt und der Umgang mit der Panzerfaust gelernt.
Die Verschlechterung der Kriegslage für Deutschland wurde nun immer offensichtlicher. Meine Mutter und ich hörten über unseren Volksempfänger VE 301 heimlich den "Soldatensender West", ein von den Alliierten betriebenen "Feindsender", dessen Abhören bei Todesstrafe verboten war. Wir drehten die Lautstärke ganz leise, hockten uns vor den Apparat, die Ohren dicht am Lautsprecher, damit ja kein anderer etwas hört. Die Nachrichten waren natürlich von ganz anderem Inhalt als bei unseren Medien. Sie kamen mir so ungewohnt sachlich vor, nicht so großspurig und propagandistisch wie bei unseren Sendern; deshalb waren sie für uns auch glaubwürdig.

Aufgeschrieben im März 2014

Lothar Bohne, geboren 1929 in der Markneukirchnerstraße 3 (Baugenossenschaft); aufgewachsen in der Hummelbergsiedlung, Forststraße 35; Schul- und Lehrjahre in Adorf bis 1949; Ingenieurausbildung in Chemnitz bis 1952; Entwicklungsingenieur in der Funkindustrie Berlin-Köpenick bis 1990; dann Vorruhestand und Rente; wohnhaft in Berlin-Köpenick seit 1952.

>> Weitere Adorfer Zeitzeugenberichte lesen...