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Nachkriegsjahre, Schul- und Jugendzeit in Adorf/Vogtl.

Aus den Erinnerungen von Dipl. Ing. Wolfgang Riedel, geboren 1938 in Chemnitz.

Von 1945 bis 1958 und von 2001 bis 2009 lebte ich in Adorf/V. (Oelsnitzer Straße und Elsterstraße). Von 1958 bis 2001 Armee, Studium, 38 Jahre in  Leipzig. Heute lebe ich mit meiner Familie in Baden-Württemberg (Lauffen a.N.).

Vogtland bedeutet: Liebkosung der Seele und rieselndes Glück  (K.A.Findeisen)
Das trifft ganz besonders auf Adorf zu, wenn man von den Bergen kommend
sich der Stadt nähert.


Nachdem wir unsere Wohnung 1945 durch Kriegseinwirkungen in Chemnitz verloren hatten und mein Vater gefallen war, zogen wir nach Adorf/Vogtl., dem Geburtsort meiner Eltern, die seit Generationen dort ansässig waren. Aus der brennenden Wohnung hatte meine Mutter nur mich und ihre Handtasche gerettet, alles andere fiel den Flammen zum Opfer. Wir haben dann bei meiner Oma in der Oelsnitzer Straße eine kleine Wohnung gefunden und dort erlebte ich meine Schul-, Lehr- und Jugendzeit.

Ich erinnere mich noch recht gut an die ersten Nachkriegsjahre. In der Uebel-Fabrik hatte die Wehrmacht ein Nachschublager (heute würde man Logistikcenter sagen) für kriegswichtiges Gerät angelegt und nachdem die Deutsche Wehrmacht aus Adorf 1945 geflohen war, kam es zu Plünderungen der Heeresbestände. Autobatterien, Reifen und Tabak waren heißbegehrte Artikel. Mein Onkel hatte sich einen Tabakballen beschafft und hatte damit ein Zahlungsmittel für die nächsten Jahre in der Hand.

Man sieht: Tabak war wirklich wichtig! Wie der geforderte "Erörterungsbericht" ausfiel, ist nicht bekannt.

In den schweren Nachkriegsjahren waren wir häufig mit Leibchen und langen Strümpfen zum Ähren lesen und Kartoffeln stoppeln unterwegs. Dank meines Großvaters, der auf dem Graben eine Stellmacherei hatte, besserte sich die Lage für uns. Sämtliche Reparaturen an Hand- und Pferdewagen der Bauern aus der Umgebung wurden mit Naturalien bezahlt. Geld spielte damals keine große Rolle, es war fast wertlos.
Leider starb mein Großvater schon 1948 an einer Krankheit, die man heute sehr gut behandeln  kann.

Noch gut in Erinnerung sind mir die Geschehnisse der Besetzung der Stadt Adorf durch die Amerikaner. Vor unserem Haus standen die Militärfahrzeuge, z.T. auch Panzer, und die Besatzung bestand vorwiegend aus dunkelhäutigen Soldaten. Als kleiner Bub stand ich vor den großen Autos und kam aus dem Staunen nicht heraus.
Nachdem ich ein paarmal im Führerhaus war, wollte ich unbedingt so ein solches Auto fahren. Ab und zu gab es auch mal einen Kaugummi oder ein Stück Schokolade. Ein bisschen gebettelt habe ich auch, und ich erinnere mich an folgende Episode: Der Ami verstand mein Betteln nicht so recht oder wollte mich nicht verstehen und sagte: „Schoklett kaputt“, worauf ich ihm sagte, dass ich auch Breckele (kleine Brocken) essen würde. Es hat aber nichts  genützt.
Leider blieben die Amerikaner nicht lange im Vogtland, weil man Sachsen gegen einen Teil von Berlin getauscht hat. Schade, vieles wäre wohl in den Biographien der Menschen anders verlaufen.      
                                
Aber was soll`s, die Amerikaner zogen ab und die Russen kamen mit ihren kleinen Pferdewagen aus Richtung Oelsnitz singender Weise anmarschiert. Die Soldaten sahen sehr armselig aus und trugen vorwiegend Fußlappen, deren Gebrauch ich ca. 15 Jahre später bei der Armee kennen lernen durfte.
Wir standen am Straßenrand und schauten dem Einmarsch der Sowjetarmee zu. Auch ist mir erinnerlich, dass der Gesang der Truppe sehr nach Leberwurst klang. Eine Erklärung findet sich im Beitrag von Klaus Bahmann.
Im Adorfer Finanzamt bezogen die Russen Quartier und hatten die ehemalige Schalterhalle zur Küche umfunktioniert. Nach Abzug der Russen bekamen die Handwerker der Stadt den Auftrag das Gebäude in eine Schule umzubauen.
Wir, die Handwerker, staunten nicht schlecht über den vorgefundenen Zustand. Es gab weder Wasserhähne noch Lichtschalter, auch war das eiserne Treppengeländer nicht mehr vorhanden. Über den Zustand der Kellerräume möchte ich mich nicht äußern. Man hatte sich entschlossen Türen und Fenster dicht zu machen und einen Schädlingsbekämpfer zu beauftragen. Höhepunkt war jedoch das große Loch im ersten Stock im Zimmer des Kommandanten, das neben dem Schreibtisch durch die Decke gebrochen war. So hatte der Chef jederzeit einen Überblick über das Geschehen in der Küche. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser (Lenin).

Als Junge bin ich mit meinem Freund Dieter auf der angestauten Elster in einer Holzwanne  gepaddelt. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem der Krieg Adorf erreicht hatte. Wir waren, wieder mal auf der Elster, als ein dröhnendes und pfeifendes  Geräusch über unseren Köpfen zu hören war und kurz danach eine Granate in die Möckelsburg  einschlug. Danach hatten wir die Lust am Paddeln verloren.
Mein Freund Dieter hatte wohl in der Bodenkammer eine alte Pickelhaube aus dem ersten Weltkrieg gefunden. Leichtsinnigerweise lief er damit auch auf die Straße. Eine vorbeifahrende Militärstreife hielt an und der Dieter hatte seinen Helm los. Dieter ist leider sehr frühzeitig gestorben.

Ein anderer guter Freund von mir war der Vierheilig Martin. Viele ältere Adorfer werden sich noch gut an ihn erinnern. Schon in der Schule war er Klassenbester und hatte auch ein außerordentliches Talent zum Malen. Sein  größtes Verdienst ist die nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten angelegte Schmetterlingssammlung aus seiner vogtländischen Heimat. Soviel ich weiß, ist diese Sammlung nach seinem frühen Tod an das Naturkundliche Museum in  Chemnitz übergeben worden.

Nach dem oben schon erwähnten Paddeln auf der Elster haben wir einmal einen unbekannten Körper unterhalb der Elsterbrücke entdeckt. Es stellte sich schnell heraus, dass es sich um eine Wasserleiche handelte. Wir liefen schnell zum Ullmann Willi, der in der Oelsnitzer Straße eine Autowerkstatt hatte. Er und seine Gesellen bargen dann die Leiche und ich hatte erst mal vom Paddeln genug. 
                                                                  
Zum Ullmann Willi fällt mir noch ein, dass sein Vater, der Emil (Schmiedemeister), in den Nachkriegsjahren auf dem Alten Acker Getreide angebaut hat. Um den Schaden durch Spatzen zu reduzieren, hat er einen Gesellen beauftragt, mit einer großen Blechtafel und einen Hammer ums Feld zu laufen und ordentlich Krach zu machen. Ob diese Aktion einen messbaren Erntegewinn gebracht hat, darf bezweifelt  werden.

Gerne erinnere ich mich noch an die Faschingsumzüge in Adorf. Voran lief der Schniegler Paul gefolgt von Trachtengruppen und prächtig geschmückten Pferdewagen. Auch zum Heimatfest gab es einen solchen Umzug (1954). Der eine Wagen war beschriftet mit <Die Zigeuner kommen>.

Auch die Maskenbälle der Kleingärtner in der Curt-Mittag-Halle waren sehr beliebt. Dieses fröhliche Vereinsleben war der damaligen herrschenden Klasse nicht genehm. Wurde doch die Rolle der Arbeiterklasse nicht gebührlich betont und die Liebe zur Sowjetunion war überhaupt nicht erkennbar. Also war Schluss mit den traditionellen Umzügen alter Prägung.

Ein Beispiel für eine sinnlose Zerstörung war auch die angeordnete Demontage der Webautomaten in der Claviez-Fabrik unter russischer Aufsicht. Die zum Teil 6 Meter breiten Webautomaten waren gegenüber mechanischen Erschütterungen sehr empfindlich. Man hat damals diese Maschinen vom Fundament gelöst, auf starke Holzbalken  gezogen, einen Wanddurchbruch angelegt und mittels Panzer  auf der Oelsnitzer Straße auf den Güterbahnhof gebracht. Spätestens dort war nur noch Schrott angekommen. Unerklärlich, warum unser großer Bruder so ineffizient mit Produktionsmitteln umgegangen ist. Es wäre wohl  vernünftiger gewesen weiterhin Teppiche zu weben und diese dann in die SU zu liefern. So wurde auch in anderen Betrieben der sowj. Besatzungszone Schrott produziert.

Ein schaurig besinnliches Kapitel war auch die Bestattungskultur der damaligen Zeit. Es war üblich, dass der Verstorbene nach Möglichkeit drei Tage im Haus aufgebahrt wurde. Danach erfolgte eine Überführung per Leichenwagen vom Trauerhaus zum Friedhof. Es gab damals zwei Unternehmen in Adorf, die dafür in Frage kamen: zum einen der Hertel Fritz (Spitzig-Fritz) und der Schuster Werner aus der Oelsnitzer Straße. Es war üblich, dass dem Leichenwagen die trauernden Familienangehörigen, Freunde und Bekannte folgten. Man kann  sich vorstellen wie  anstrengend eine solche Prozession war. Nicht selten begann der Leichenzug in der unteren Stadt vorbei am Korb-Fleischer, Thossen-Fleischer und bog dann an der Härtel-Drogerie in Richtung Markt ab und von dort zum Friedhof. Man bedenke, dass sich unter den Trauernden häufig  ältere Menschen befanden und diese die Geschwindigkeit des Trauerzuges  bestimmten. Ich erinnere mich noch gut an folgende Begebenheit. Der Schuster Werner hatte junge Pferde eingespannt, denen die langsame Trott nicht zusagte, das heißt, die Pferde gingen mit dem Leichenwagen durch. Sie erreichten im Galopp den Friedhof, beschädigten das Eingangstor und grasten dann friedlich im hinteren Teil des Friedhofs. Wie die Leiche die rasante Fahrt  < überlebte >, ist mir nicht bekannt. Ein solcher Trauerzug wäre beim heutigen Straßenverkehr undenkbar.

Eine unangenehme aber notwendige Handlung  war auch die Entsorgung der Fäkalien. Kanalisationen im heutigen Sinne gab es  damals noch nicht, so dass die Jauchegruben (Odel) regelmäßig im Jahr geleert werden mussten. Das geschah mit großen Fässern, die auf Pferdewagen montiert waren und mittels "Odelschöpfer" gefüllt wurden. Natürlich waren die Fässer nicht so recht dicht und der stinkende Inhalt zierte den Fahrweg bis zu den Feldern. Die Entleerung der zahlreichen Gruben zog sich über viele Wochen hin, so dass immer ein bisschen Aroma in der Luft war.

Meine Erinnerungen an die Schulzeit setzen erst im zweiten Schuljahr in Adorf wieder ein. Das erste Jahr meiner Schulzeit habe ich wegen der zahlreichen Bombenangriffe im Keller zugebracht, dabei sind alle guten Erinnerungen gelöscht worden. Erinnerlich ist mir von den Lehrern noch der Metzner-Opa, als Lehrer der ersten Jahre, natürlich die Jehmlich Ruth und der Herr Neuheiser. Selbstverständlich auch unser Lehrer Reidel Ehrenfried und Frau Helm. Mit ihm war ich noch in den letzten Jahren wandern. Herr Neuheiser war aus der russischen Kriegsgefangenschaft gekommen und versuchte seine dort erworbenen Kenntnisse der russischen Sprache an uns weiterzugeben. Während meiner zahlreichen Dienstreisen in die Sowjetunion habe ich erst gemerkt, dass ich mit dem Wissen nur wenig anfangen konnte.

Meine musikalischen Neigungen waren eher gering. Meine Mutter hatte mir Klavierunterricht in Markneukirchen verordnet. Nach ca. einem halben Jahr starb mein Lehrer, ohne mein Zutun und ich war froh. Es stimmt schon, wenn man sagt, "Der Tod kann eine Erlösung sein".

So ging die Schulzeit dahin und es wurde Zeit, sich Gedanken über die weitere Zukunft zu machen. Trotz guter Schulnoten wurde mir der Besuch der Oberschule in Oelsnitz verwehrt. Der damalige Direktor der neuen Schule Herr Sch. erklärte meiner Mutter, dass er mir den Zugang zur Oberschule nicht erlauben könne, da ich kein Arbeiterkind sei. Mein Vater war Beamter im mittleren Dienst. Ich wollte meiner Neigung folgend Elektriker werden, aber auch das scheiterte. Ich musste erst den Beruf eines Bauschlossers erlernen. Anmerken muss ich, dass meine Lehrzeit streng, aber immer fair war. In der damaligen Zeit war es durchaus üblich, dass der jüngste Lehrling das zweifelhafte Vergnügen hatte, montags Schuhe putzen und am Samstag die Straße zu kehren. Heute stelle ich fest, dass es mir nicht geschadet hat. Ich habe gelernt, dass man als Jugendlicher auch einmal den Mund halten muss. Nach meiner abgeschlossenen Lehre hatte ich immer noch den Wunsch Elektriker zu werden und ich bewarb mich wiederum um eine Lehrstelle. Mit Hilfe meines Lehrmeisters gelang mir das endlich auch. Nach 5-jähriger Lehrzeit hatte ich nun zwei Grundberufe. Aber nun wollte ich studieren. Und wieder waren meine Herkunft und meine politische Inaktivität sowie meine Berufsausbildung bei einem privaten Handwerksmeister  für eine Delegierung zum Studium nicht geeignet. Aber es gab einen Ausweg, wie so oft im Leben.

Eines Tages stand der Major der Kasernierten Volkspolizei in unserer Wohnung und stellte sich als Major Pinder vor. Er teilte mir mit, dass er als Werbeoffizier unterwegs sei und sicherte mir seine Unterstützung für eine Delegierung zum Studium zu. Natürlich setzte er dabei voraus, dass ich zunächst meinen s.g. Ehrendienst bei der Kasernierten Volkspolizei ableisten muss. Nun, ich wollte unbedingt studieren und so erklärte ich meine Bereitschaft. Noch am selben Tag erschien Major Pinder mit den Aufnahmeformalitäten. Übrigens, ich saß gerade in der Sitzbadewanne und unterschrieb mit nassen Händen. So eilig hatte es Major Pinder, der übrigens als "Pinder-Schwartel" aus der Talstraße in Adorf bekannt war.
Während meiner Armeezeit hatte ich Gelegenheit die Hochschulreife nachzuholen, für „Freiwillige“ gab es damals diese Möglichkeit. Meine Bedingungen (Delegierung und Dienst in einer Nachrichtenwerkstatt) wurden tatsächlich erfüllt.
Nach der Armeezeit habe ich an der Ing.-Hochschule in Mittweida Kernphysikalische Elektronik (Strahlenmesstechnik) studiert. Nach dem Studium war ich 38 Jahre bis zum Renteneintritt an der Akademie der Wissenschaften (später Umweltforschungs-Zentrum) in Leipzig angestellt.

Abschließend möchte ich sagen, dass mich die ausführlichen und oft witzigen Ausführungen von Klaus Bahmann und der anderen Autoren inspiriert haben, ebenfalls meine Erinnerungen an Adorf zu Papier zu bringen. Ein Bild von Klaus Bahmann habe ich im Foto-Album gefunden. Wir haben uns nicht gekannt, er war wohl in einer anderen Klasse. Danken möchte ich auch meinem Schulfreund Klaus Zenker (früher Markneukirchner Straße), der mich auf die historischen Zeitzeugenberichte aus Adorf aufmerksam gemacht hat.

Dank der Erwähnungen kann ich mich nun wieder an die Namen alter Adorfer Geschäftsleute erinnern:  z.B. Foto-Galsterer, Lumpen-Hetzsch auf dem Pfortenberg, Fahrrad Wohlfahrt, vorher Fahrrad Thoß, Tabak Renz, Spitzig Fritz, Müller-Tischler, Eisen-Kolbe und Korb Fritz. Natürlich sagen mir auch die Namen Floßbach-Kapitän etwas und mit dem Kraußen Horst  (Blanka) habe ich erst im Herbst gesprochen. Die Geschichte vom Spalken-Fred mit dem verlorenen Loch am Fahrrad kenne ich auch, ebenso die selbstlose und hilfreiche Tat des französischen Arztes bei der Belagerung von Adorf.

Nun habe ich Adorf zum zweiten Mal und nun für immer verlassen, aber meine Verbundenheit bleibt und wird jedes Jahr im Urlaub wieder aufgefrischt.
Es schmerzt mich, wenn ich den baulichen Verfall der Stadt sehe und auch die zum Teil antiquierten Ansichten mancher Bürger der Stadt.

Wolfgang Riedel
Lauffen a.N.    im Dezember 2012