Skip to content

Bericht von Lissa Vieweger - Adorf 1945

Zu unserer Familie gehörten meine Eltern, mein Bruder (er war bei der Marine), ich und meine verwitwete Großmutter mütterlicherseits, die eine monatliche Rente von 26 Reichsmark erhielt und mit dieser Rente allein nicht zurechtgekommen wäre. Wir wohnten in Adorf, Goesmannstraße 16. 

Hier waren wir Zeuge gewesen, als sich Ende September, Anfang Oktober 1938 die Wehrmacht für den Einmarsch in die Tschechei (Manöver: „Heim ins Reich“) bereitmachte. Auf dem Jahnplatz, den wir von daheim gut im Blick hatten, war eine Art Sammelpunkt. Es soll ein ganzes Regiment gewesen sein, möglicherweise auch mehr, das sich dort versammelte. Die Soldaten kampierten in den Scheunen am Scheunenweg (damals gab es noch mehr als heute dort, mindestens 10 bis 12 Stück) und waren mit Kübelwagen, Motorrädern (vielfach mit Beiwägen), aber auch mit Pferden unterwegs. Ich kann mich erinnern, dass einmal ein Soldat bei uns gegessen hat und nehme an, dass sie zum Essen auf die umliegenden Häuser verteilt waren. 

Sechs Jahre später, innerhalb der letzten neun Monate vor Kriegsende geschah dann folgendes:
Der Winter stand vor der Tür und das Heizmaterial, das wir zur Verfügung hatten (Holz, Kohle) musste eingeteilt werden. Es diente nur zum Kochen, so dass es die übrige Zeit sehr kalt in der Wohnung war. Meine Großmutter, mit einer Decke behängt, ging vor Kälte immer auf und ab, um sich einigermaßen warm zu halten.
Mein Bruder kam im Dezember 1944 auf Urlaub um zu heiraten. Ich war damals 14 Jahre. Nun kam auch hier die Kriegsfront immer näher. Im April 1945 kamen uns die Vorahnungen meiner Mutter zugute, die eines Abends plötzlich ins Schlafzimmer ging, die Federbetten in den Vorsaal brachte und uns eindringlich bat, die Wohnung zu verlassen und uns im Vorsaal aufzuhalten. Gesagt, getan, es war zu dieser Zeit etwa gegen 19.30 Uhr. Gegen 20.00 Uhr flog mit ohrenbetäubendem Lärm die Tür unserer Wohnung, vor der ich gerade stand, auf. Ich war in eine Staubwolke eingehüllt, und Ziegelbrocken flogen um meine Beine. Ich fühlte mich wie gelähmt und war nicht fähig, meinen Standort zu verlassen, bis mich irgendjemand von dort wegholte. Wir verließen fluchtartig den Vorsaal und begaben uns in die Keller Goesmannstraße 14.

Am frühen Morgen des nächsten Tages wurde uns das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Unsere Wohnung lag in Schutt und Asche. Wir hatten alles verloren, freuten uns aber dennoch über die geretteten Federbetten und was viel wichtiger war, dass wir dank meiner Mutter noch lebten. Es stellte sich nun die Frage, wo wir weiterhin wohnen konnten. So kam uns zu Hilfe, dass im Haus der Goesmannstraße 14 früher einmal der Kindergarten untergebracht und so leerstehende Räume vorhanden waren, die wir bezogen. Die dreckigen Matratzen, die wir unter Schutt und Asche fanden – in unserer Wohnung – säuberten wir einigermaßen und waren heilfroh, dass wir dank der geretteten Federbetten eine „komplette“ Schlafstätte hatten.

Bevor der Beschuss von Adorf durch die Granatwerfer der Amerikaner von der Arnsgrüner Höhe aus überhaupt begann (in der Regel täglich abends ab 20 Uhr bis morgens 6 Uhr) – ungefähr 14 Tage lang, hatten bereits unsere Wohnungsnachbarn – das war noch möglich – das Weite gesucht und bei ihren Verwandten in Gettengrün eine Bleibe gefunden. Sie boten uns an, doch auch dahin zu kommen, sollte der weitere Aufenthalt in Adorf zu gefährlich werden. Wir nahmen das Angebot an und etwa zwölf Personen, darunter eine schwangere Frau, zogen mit beladenen Handwagen die Schützenstraße hinaus. Auf der Höhe kam uns vom Tal der Schillingsloh (= das Tal, wo später die Mülldeponie angelegt wurde) der amerikanische Spähtrupp entgegen. Wir bogen rechts ab in die Straße, die zu den Arnsgrüner Grenzhäusern führt, wo die Amerikaner in den Seitengräben lagen und die Maschinengewehre auf uns richteten. Sie mussten uns angesehen haben, dass wir keine Ahnung vom Krieg hatten und ließen uns unbehelligt weiterziehen. Bei den genannten Grenzhäusern angekommen, standen die amerikanischen Panzer mit ihren Soldaten. Einer konnte ganz gut deutsch und fragte uns, wo wir denn hin wollten – nach Gettengrün, sagten wir. Er schüttelte mit dem Kopf, drehte einige Handwagen in Richtung Adorf um und so traten wir im Getöse der Granatwerfer, die Adorf jetzt auch tagsüber unter Beschuss nahmen, alle den Heimweg an. Wenn ein französischer Kriegsgefangener, der Arzt war und derzeit in Adorf lebte, nicht mit einer weißen Fahne zu den Amerikanern gegangen wäre und ihnen gesagt hätte, dass sich kein deutsches Militär mehr in Adorf aufhielt, wäre unsere Stadt sicher in Schutt und Asche gelegt worden. Wieviel Tote es durch den Beschuss in Adorf gab, kann ich nicht sagen, aber soviel ich weiß, waren es etliche.
Erwähnen möchte ich auch, dass uns Tieffliegerangriffe tagsüber das Leben schwer machten. So standen kurz vor Ende des Krieges mehrere Sanitätswagen der deutschen Wehrmacht auf der Elsterbrücke, und wieder einmal kamen die Tiefflieger. Zwei Kinder von Adorf krochen vor Angst unter diese Wagen, sie wurden tödlich getroffen.

Nun kamen die Amerikaner zu uns nach Adorf. Sie waren einfach da, ganz unauffällig. Wir wurden damit bestraft, dass wir tagsüber nur bis nachmittags 16 Uhr Ausgang hatten. Eine tragische Geschichte ereignete sich noch beim Einzug der Amerikaner in der Siedlung am Hummelberg in Adorf. Dort schossen zwei junge Männer aus einem Haus auf die Amerikaner. Diese stürmten das Haus, brachten die zwei Angreifer in den Wald am Freiberger Berg und erschossen sie dort.
Die Nachkriegszeit war sehr schlimm. Es gab Lebensmittelkarten. Was man darauf bekam, reichte nicht zum Leben. Die Bevölkerung ging auf die abgeernteten Felder der Bauern zum Ährenlesen und Kartoffeln nachgraben. Das Getreide wurde in der Kaffeemühle gemahlen. Wenn man Glück hatte, bekam man auf dem Schwarzmarkt mal ein Brot, für das man aber 80 bis 120 Mark bezahlen musste. Erst im Sommer 1958 wurden die Lebensmittelkarten wieder abgeschafft. Die Entwertung des Geldes erfolgte 1957 und zwar 10 zu 1.

Lissa Vieweger im Juli 2012
(82 Jahre)

Fotos mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Gerhard Brunner (aufgenommen von seines Vaters Haus in der Goesmannstraße)