Skip to content

Erinnerungen von Ehrenfried Reidel an die Ereignisse in Adorf im Herbst 1989

Das waren schon aufregende Stunden, Tage und Wochen in diesem Spätherbst
’89. Mit diesen umwerfenden Ereignissen hätte wohl niemand gerechnet. Auch nicht die ärgsten und verbittertsten Gegner des Staates.

Was war da plötzlich geschehen? Ohne irgendwelche Vorahnung. Einfach nur so? Doch, eigentlich gab es sanftes, durstiges „Geplänkel“, aber eben kaum hörbar. Dieses Geplänkel erreichte auch Gebiete der DDR, ausgestrahlt vom Ochsenkopf im
Fichtelgebirge in Bayern und empfangen vom Kanal 4 in unserem Fernsehen. Das Vogtland konnte fast uneingeschränkt das Westfernsehen empfangen, wenn auch mitunter Antennenversteckspiel auf der Tagesordnung stand. Offiziell durfte ja das „Schädliche“ aus dem Westen nicht in die Köpfe der DDR-Menschen festen Fuß fassen. Aber verbotene Früchte schmecken doch manchmal so gut.

Da erzwangen DDR-Bürger den Eintritt in die Botschaft der Bundesrepublik
Deutschland in Prag und baten um politisches Asyl. Tausende von DDR-Urlaubern, Familien mit Kind und Kegel, hatten einen lang geplanten Aufenthalt in Ungarn gebucht mit dem alles vorausschauenden Blick, nicht mehr in ihre Heimat zurückzukehren. Koste es, was es wolle. Nichts wie raus aus dem Land, das uns so viel vorenthalten hatte. Jetzt war der Augenblick dazu gekommen. Ob das gut ginge? Fast zur gleichen Zeit baten mehr als einhundert DDR-Bürger um Zuflucht
in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin. Zuflucht
vor der eigenen hochgelobten Arbeiter- und Bauernregierung? Eine eigenartige Auffassung vom Leben in diesem 40-jährigen Staat. Der Flüchtlingsstrom
über Ungarn nach Österreich nahm ein immer größeres Ausmaß an. Ende September durften mehrere tausend Flüchtlinge die Prager Botschaft verlassen und mit der Bahn über Dresden, Plauen nach Hof ausreisen. Nach außen hin sollte es als „Ausweisung“ gelten.

Anfang Oktober kam es in mehreren Städten zu gewaltlosen Demonstrationen
und Empörungen gegen die Staatsführung. Auf ständigen Druck der breiten Masse hin gab Erich Honecker seinen Rücktritt nach 18-jähriger Amtszeit aus gesundheitlichen Gründen bekannt. Er sah keinen anderen Ausweg mehr aus der misslichen Lage, in die er mit seinem Gefolge hineingeschlittert war. Das Ende der DDR stand kurz bevor. Bis in den kleinsten Winkel unseres Landes hinein lösten diese Unruhen teils freudige Beifallsstürme aus. Es gab aber auch bedenkliche Zurückhaltungen im Hinblick auf die ungewisse Zukunft, mit der verständlichen Frage: Wie soll das weitergehen?

In Adorf wurde am 26. Oktober erstmals eine Demonstration auf den Plan gerufen. Hunderte von Bürgern, alt und jung, zogen in die Kirche, der Rest wartete geduldig auf dem Vorplatz. Nach dem Ende der Gespräche in der St. Michaeliskirche bildete sich ein langer Schweigemarsch mit Kerzenschein durch die Stadt, der sich schließlich vor dem Rathaus ruhig und völlig friedlich wieder auflöste. Großartig! Mehrmals noch brachten so die Adorfer ihren Willen zum freiheitlichen Leben zum Ausdruck.
Die weltweiten Ereignisse, die im Fernsehen und im Rundfunk im Mittelpunkt
der Meldungen standen, wurden selbstverständlich auch in unserem Wohnblock
unaufhörlich in Augenschein genommen. Unterhaltungen auf dem Flur gab es so gut wie keine. Man wusste ja nicht, wie der Nachbar darüber denkt, wie er sich mit den neuen, doch teilweise undurchsichtigen Verhältnissen, wie er sich mit diesem Außergewöhnlichen anfreunden würde. Und das war zweifellos nicht ganz so einfach.
Für hartgesottene Fürsprecher unseres Staates gab es in unserer Haus-Nr. 41 (Wohnblock in der damaligen Straße der Befreiung, seit 1990 Goesmannstraße)
wohl keinen Platz. Die Mieter glaubten im Großen und Ganzen an das Wohlbefinden im Sozialismus, aber ein totales Dahinterstehen war nicht in ihrem Sinn. Begegnete man in der Stadt einem bestimmten Personenkreis, von denen man annehmen musste, dass sie alles für ihren Staat geben würden, so las man aus ihrem Gesichtsausdruck ihren Unmut zu dem bahnbrechenden Einschnitt in ihrem Leben. Für sie musste ein totaler Zusammenbruch ihrer glorreichen Ideen erfolgen.

Tags darauf strömten mehrere hundert Adorfer in die „Vogtland-Filmbühne“,
um Näheres erfahren zu können über das vor ihnen Stehende. Zunächst ergriff
der Adorfer Bürgermeister Gerhard Zykmund das Wort und hoffte mit seinen Ausführungen auf die Zustimmung seiner Bürger. Er schien jedoch die neue politische Lage keinesfalls begriffen zu haben. Ein gellendes Pfeifkonzert unterbrach seinen Redeschwall. Mit hochrotem Kopf trat er von der Bühne ab und verschwand
im Nebenraum. Als der damalige Lehrer Johannes Lenk (1934 – 1995) , seit einigen Jahren Invalidenrentner, ans Rednerpult trat, wurde ihm ein gebührender Empfang
bereitet. Schließlich saßen im Raum nicht wenige seiner ehemaligen Schülerinnen
und Schüler. Für Johannes Lenk erfüllte sich der langgehegte Wunsch nach einem Leben in Freiheit und Demokratie. Seine gutdurchdachten Formulierungen, die jeden ansprachen, bezogen sich auf das Kommende, auf das Neue, das von den wenigsten begriffen wurde. Johannes Lenk war ein geachteter und hilfsbereiter Lehrer, der allerdings bei seinen übergeordneten Stellen mit seinen pädagogischen und politischen Ansichten wiederholt aneckte und den Groll dieser Leute auf sich zog.
Ein andermal sprach der damalige Bildungsminister der BRD Jürgen Möllemann
(1944 – 2003). Er forderte die Zuhörer auf, den friedlichen Wandel in Ruhe und Gelassenheit zu überdenken und keinesfalls unbedacht Handlungen zu vollführen. Es braucht eben alles seine gewisse Zeit.

Im November 1989 schrieb u. a. „Die Zeit“: „In den Herzen der Deutschen läuten die Glocken. Die Nation lebt, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl ist ungebrochen; die große Wiedersehensfeier des 20. Jahrhunderts hat es alle Welt kundgetan. Selbst jene, die sich mit einem Deutschland zu zweit nicht abfinden mögen, sind sich darüber im Klaren, dass die Einheit bestenfalls am Ende einer langen Entwicklung kommen wird, … die eben erst begonnen hat".

Ehrenfried Reidel, Sept. 2009

>> weitere historische Zeitzeugenberichte lesen ...