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1945 - Flucht aus dem Wehrertüchtigungslager

erlebt von Lothar Bohne, geb. Aug. 1929

Mit der fortschreitenden Verschlechterung der Kriegslage wurden nunmehr immer jüngere Jahrgänge für Verteidigungszwecke herangezogen. Wir waren als 15-jährige Adorfer schon seit Nov. 1944 an einigen Wochenenden zur Volkssturmausbildung nach Plauen beordert worden, die Großstädter mussten als Flakhelfer dienen und die jungen Frauen wurden als Wehrmachthelferinnen eingezogen (auch meine Schwester Edith). Eine weitere Verschärfung wurde für 15-jährige Jungs mit einer 6 bis 8-wöchigen vormilitärischen Ausbildung in sog. “Wehrertüchtigungslager” der Hitler-Jugend verfügt. Die Ausbilder waren Wehrmachtsangehörige.

Mit der Einberufung in das Wehrertüchtigungslager bei Mauth im “Protektorat Böhmen und Mähren” (so wurde das Gebiet der damaligen Tschechei, heute Tschechien, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1939 genannt) etwa Mitte März 1945, begann nun eine völlig neue Zeit für mich. Die Schule wurde abrupt abgebrochen und nie wieder fortgesetzt, was man allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste. Die Kriegslage war für den kühl denkenden Menschen schon aussichtslos; mehr als halb Deutschland war von den Alliierten bereits besetzt.  Der Krieg konnte eigentlich nur noch wenige Wochen dauern.

Mauth (wie der tschechische Name lautet, weiß ich nicht) war ein kleines Dorf zwischen Pilsen und Prag; in einem sehr flachen Tal an der Eisenbahnlinie gelegen.
Mit mir wurde noch mein Klassenkamerad Karl Eichhorn, der Sohn des Adorfer Oberförsters, und weitere zwei Adorfer einberufen. Warum von unserem Jahrgang gerade wir vier, ist mir nie klar geworden. Die Einberufung war für 6 Wochen geplant.
In diesem Lager, es war wohl eine Schule, in deren Klassenzimmer wir zu 30 oder 40 Mann untergebracht waren, wurden wir militärisch gedrillt. Frühmorgens zur Abhärtung im Freien an einer Wasserstelle den Oberkörper kalt waschen, exerzieren, schießen, marschieren und was es sonst noch als Wehrertüchtigung gibt.
Der Lagerkommandant war ein Leutnant der Wehrmacht, der für seinen Dienstwagen, aufgrund der nun immer mehr zusammenbrechenden Versorgung, kein Benzin mehr hatte. Er gab demjenigen zu Ostern (1. April) Urlaub, der ihm Benzin versorgen konnte. Karl Eichhorn und ich meldeten uns, obwohl vor allen ich noch nicht wusste, woher das Benzin nehmen. Karl Eichhorn hatte wohl mehr Chancen, da sein Vater als Oberförster recht gute Beziehungen zur Adorfer Oberschicht hatte. Wir beide fuhren also nach Hause und versuchten den Kraftstoff zu organisieren. Karl hatte bald einen halben Kanister mit Hilfe seines Vaters aufgetrieben, aber ich hatte keine Chance. Wir streiften die Gegend in und um Adorf ab um irgendwo etwas zu entdecken. Und Tatsache, wir hatten Glück. Auf dem Circusplatz an der Bismarckstraße (heute Penny-Markt an der Lessingstraße) stand ein abgestellter Lastwagen an dessen außen angebrachten Tank heranzukommen war. Den Verschluss öffnen und Benzin raus schöpfen war aber nicht möglich. Deshalb bohrten wir den Tank an und ließen den Kraftstoff in einen Kanister laufen. Es war nicht viel, der 5l-Kanister wurde nur etwa halb voll. Zudem kam noch eine Menge dicker Schlamm mit raus, an dem gewiss kein Vergaser große Freude hatte. Aber jedenfalls hatte ich nun auch meinen Kraftstoff.

Am Dienstag nach Ostern sind wir dann mit unseren Kanistern zurück ins Lager. Obwohl die Fronten auf allen Seiten schon in bedrohlicher Nähe gerückt waren, wagten wir noch nicht, einfach zu Hause zu bleiben. Die Nazis hatten die “Heimatfront” noch fest im Griff, und es war zu riskant jetzt schon zu desertieren. Es gab noch genügend Denunzianten. Auch meine Mutter, sonst eigentlich eine couragierte Person, hatte in dieser Beziehung keinen Einfluss auf mich genommen.
Erst als wir im Lagerradio in Mauth die Nachricht hörten, dass der Amerikaner schon westlich von Plauen und von Hof war, haben wir (d. h. Karl Eichhorn, ich und ein weiterer Adorfer ebenfalls namens Eichhorn aus der Weststraße) den Entschluss gefasst, anlässlich des Ausganges am Sonntagnachmittag dem 15. April die Flucht zu wagen. Wir taten dies trotz der Nachricht, dass am 12. April der Präsident der USA, Roosevelt, verstorben war und damit der Krieg nun doch noch zu gewinnen wäre, wie uns unsere Vorgesetzten einreden wollten.
Natürlich ließen wir alles zurück, da beim Ausgang  jeder auf ein korrektes Erscheinungsbild durch einen Unterfeldwebel kontrolliert wurde. Ich habe mir zwar noch zwei Paar Wollsocken in die Hosentaschen gestopft, aber Koffer, Wäsche und andere Utensilien mussten zurückbleiben. Das war mit Trauer verbunden, denn es herrscht damals an allen Dingen großer Mangel.
Wir verdrückten uns also, gingen durch das Dorf an den gegenüberliegenden Waldhang, und in diesem immer in Sichtweite der Straße und der Bahnlinie, bis zum nächsten (oder übernächsten?) Bahnhof Richtung Pilsen. Nach Ablauf der Ausgangszeit (2 Stunden) sahen wir, wie unsere Ausbilder mit Motorrad und Auto die Straße abfuhren, denn wir waren nicht die Einzigen, die sich an diesem Sonntagnachmittag aus dem Staube machten, und nach 2 Stunden noch nicht zurück waren. Wir konnten uns aber Dank unseres Schleichwegs unbehelligt in den Zug nach Pilsen begeben. Auf dem dortigen Bahnhof mussten wir dann wiederum Angst haben vor den sog. “Kettenhunden” (Militärpolizisten mit an einer Kette hängenden halbmondförmigen Schild um den Hals mit der Aufschrift “Feldgendarmerie“) , die sich von allen Soldaten den Marschbefehl zeigen ließ. Wir in unserer HJ-Uniform wurden aber glücklicherweise nicht kontrolliert; wir waren ja auch noch nicht vereidigt.
In Pilsen, wo wir die Nacht verbrachten, haben wir uns etwas Nahrung verschafft, indem wir einem Kioskbetreiber eine unechte Pistole vor die Nase hielten (ich glaube, die hatte Karl Eichhorn einstecken), ein paar Scheiben Brot vom Tresen grapschten und in Eiltempo die Flucht um die nächste Ecke ergriffen.
Mit der Bahn ging es dann weiter nach Eger. Dort war kurz vorher der Bahnhof bombardiert worden. Als Ergebnis davon lag u. a. noch eine abgerissene Hand mit Unterarm im Gleisgelände herum. Die ersten und einzigen Totenteile die mir der Krieg gezeigt hat. Wie wir von Eger aus weitergekommen sind, ist mir nicht mehr gegenwärtig. Irgendwo, ich glaube in der Nähe von Franzensbad, sind wir auf einen Militärlastwagen der deutschen Wehrmacht gestiegen der in Richtung Asch fuhr. Aber wie weit wir mitgefahren sind, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war die letzte Etappe ein Fußmarsch von Roßbach (heute Hranice) über Bad Elster nach Adorf.

Der Krieg war immer noch nicht zu Ende, und es gab auch noch keinerlei Anzeigen, dass die Bevölkerung nun die Schnauze voll hätte und sich gegen die Machthaber zur Wehr setzte. Die Angst war bis zum bitteren Ende noch allgegenwärtig. Im Gegenteil, Adorf wurde zur Festung erklärt und alle Angehörigen der Geburtsjahrgänge bis 1929 sollten sich melden.
Wie mir meine Mutter später erzählte, wurde sie von einer Siedlungsbewohnerin (die Frau des Ortspolizisten Schädlich, die offenbar mitbekommen hatte, dass ich da war) aufgefordert, dass ich mich zur Verteidigung von Adorf melden sollte. Sie hat dies an mich aber nicht weitergegeben, vielleicht um Gewissensbisse oder Angst bei mir zu vermeiden, obwohl ich durch meine Flucht ja einen gewissen Realitätssinn und Mut bewiesen hatte. Offenbar war die Handlungsfähigkeit der Behörden doch schon eingeschränkt oder im Chaos versunken, sonst hätten sie mich abgeholt.
Vom vierten Adorfer (es war ein Flüchtling aus Ostpreußen aus meiner Klasse), der zu feige war mitzukommen und lieber die reguläre Entlassung abwarten wollte, habe ich nie wieder etwas gehört. Möglicherweise ist er bei den damaligen Turbulenzen in der Tschechei umgekommen. Es ist mir unbekannt, wie es mit den in Mauth verblieben Kameraden weiterging.

Den Beschuss von Adorf  und den Einmarsch der Amerikaner habe ich dann in der  Siedlung am Hummelberg noch miterlebt. Erlebnisberichte darüber gibt es mehrere; ich kann denen aber nichts Erwähnenswertes mehr hinzufügen.

Entnommen aus meinen Lebenserinnerungen und bearbeitet im April 2014.

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